Wir
finden etwas Ähnliches in der Legende der Salome. Die ersten Quellen
stammen aus der Bibel, wenn auch auf indirekte Weise. Hier wird
geschrieben, dass Herodes Antipas, Tetrarch von Galiläa und Verbündeter
des römischen Reiches, seinen Bruder umgebracht und seine Frau Herodias
geheiratet habe. Diese Ehe sei von vielen seiner Untertanen als
unmoralisch und inzestuös gesehen worden, vor allem von Johannes dem
Täufer, der Herodes und seiner Frau den Ehebruch und Mord öffentlich
vorgehalten habe, worauf er verhaftet, ins Gefängnis gebracht und später
auf Veranlassung der Herodias hingerichtet worden sei. Herodias soll
ursprünglich ihren Mann gebeten haben, den Propheten zu töten. Der habe
sich geweigert, aus Angst, eine Rebellion zu provozieren. Herodias habe
dann ihre Tochter aus erster Ehe überredet, für den Tetrarch zu tanzen
und ihn schwören zu lassen, dass er ihr dafür alles geben würde, was sie
von ihm verlangte. Die Tochter habe gehorcht und für ihren Onkel und
Stiefvater getanzt. Am Ende habe er sie gefragt, und sie ebenfalls ihre
Mutter, was die Belohnung dafür sei. Die Antwort der Herodias: der Kopf
des Johannes. In dieser biblischen Geschichte wird der Name von Herodias
Tochter nicht genannt. Diesen finden wir zum ersten Mal in den
Apokryphen und in den Schriften des hebräischen Historikers Flavius
Josephus, in denen geschrieben wird, dass Salome, Tochter der Herodias,
später heiratete und ein langes Leben mit vielen Kindern führte. Die
Hauptrollen dieser Legende in der Bibel sind also deutlich Herodes un
Herodias.
Erst im 19. Jhd. kommt Salome als Hauptfigur vor.
Heinrich Heine und Gustave Flaubert entdeckten diese biblische
Geschichte wieder und beschrieben Herodias als eine nachtragende,
rachsüchtige und grausame Frau, dabei erschien Salome immer noch als
Nebenfigur und etwas naiv. Der Maler Gustave Moreau war der Erste, der
diese Interpretation änderte, in dem er in einem berühmten Gemälde
Salome als eine vor dem Herodes tanzende femme fatale
darstellte. In diesem Gemälde hat Salome eine Lotosblume in der Hand,
die als Symbol für Reinheit und Keuschheit steht, aber auch für Ägypten,
Indien, und für den Orient vor der westlichen Kolonialherrschaft. Es
scheint, als würde der Osten auf einem silbernen Tablett serviert, zum
Vergnügung des Westens, der ihn begehrt, ohne ihn jemals zu verstehen -
wie wir jeden Tag bestätigt sehen können, in dem wir die Nachrichten
lesen oder die Tagesschau sehen. Diese neue Salome war sehr populär und
beliebt, und hat neue Möglichkeiten der Interpretation geöffnet. In
seinem Roman À Rebours
beschrieb Joris-Karl Huysmans Moreaus Gemälde bis ins Detail. Dieser
Roman, sehr berühmt wegen der Ersetzung der Handlung durch die
detaillierte Beschreibung der damaligen Gesellschaft, wie es Marcel
Proust einige Jahre später in seinem À la recherche du temps perdu
machen würde, war einer der größten Bestseller gegen Ende des 19.
Jahrhunderts. Einer seiner aufmerksamsten Leser war Oscar Wilde, der ihn
sogar in seinem Buch "Das Bildnis des Dorian Gray" indirekt erwähnte.
Im Jahre 1896 schrieb Oscar Wilde das Theaterstück Salome,
das eine völlig neue Version dieser Legende popularisiert hat. Hier ist
Salome die Hauptfigur, sie hat sehr gut definierte Eigenschaften und
trifft selbst ihre eigenen Entscheidungen. Sie wird normalerweise als
Symbol für Wollust, Haben-Wollen und Begehren gesehen.
Ihr
erster Auftritt beinhalten bereits den Kern für das, was wir später
sehen werden: Salome kommt gerade aus Herodes' Palast und sucht draußen
auf der Terrasse die frische Luft. Sie sagt, sie sei vom Leben ermüdet,
von der Dekadenz, den lasziven Blicken ihres Onkels Herodes. Sofort
erkennt sie, oder vielleicht möchte sie nur erkennen, wie der Vollmond
die Reinheit einer Jungfrau zu haben scheint. Das ist ein wichtiger
Punkt, weil alle anderen Figuren den Vollmond als bedrohlich und
ungeheuerlich betrachten. Die Betonung von Reinheit und Keuschheit zeigt
vom Anfang an, wie Salome sich von der Dekadenz ihrer Welt gequält
fühlt. Kurz danach hören wir die Stimme des Jochanaan oder Johannes des
Täufers, der strafend über diese Welt redet, und das Erscheinen des
Messias ankündigt. Salome besteht trotz der Warnungen von Herodes
Soldaten darauf, seine Stimme zu hören, die ihr von neuen Dingen erzählt
- Dinge, die ihre Sorgen betreffen. Als Johannes die schlechtesten
Dinge über ihre Mutter Herodias erzählt, und auch über ihren Onkel und
Stiefvater Herodes, über das Leben im Palast und in der gesamten
Provinz, sind Salomes erste Worte: "Sprich mehr, Jochanaan, deine Stimme
ist wie Musik in meinen Ohren" und "Sprich mehr, Jochanaan, und sag
mir, was ich tun soll". Dies ist ein Moment der tiefen und vollkommenen
Identifizierung zwischen Johannes dem Täfer und Salome: beide wollen
jenem Weg folgen, der die materielle Welt ablehnt und die geistlichen
Welt, die sich vor ihren Augen öffnet, annimmt. Hier fängt Salomes Drama
an. Weil sie in diesen Worten die Wahrheit und die Ankündigung der
neuen Welt, selbst das Versprechen ihrer eigenen Erlösung, erkennt; unf
sie will diesem Weg folgen, ist aber nicht in der Lage, es zu tun. Sie
ist durch das konditioniert, was sie im Leben kennengelernt und gesehen
hat; jene ihr bekannte und von ihr gehasste Welt, die trotzdem die ihre
ist. Selbst wenn sie dieser neuen Wahrheit folgen will, fehlen ihr dafür
die entsprechenden Möglichkeiten. Ihre Mittel sind begrenzt. Die
einzige ihr bekannte Art, mit jemandem im Einklang zu sein, ist
Verführung und Lust. Salome, die ihre Reinheit und Keuschheit so sehr
schätzt und die Blicke des Tetrarchen von Galiläa nicht mehr ausstehen
kann, möchte sich plötzlich Johannes dem Täufer hingeben. Sie fängt an,
ihm zu sagen, wie schön sein Körper sei. Johannes antwortet mit
mystischen Worten und lehnt sie entschlossen ab. Sie versucht dann sich
zu korrigieren, gibt ihm recht, es sei sehr unpassend, über seinen
Körper zu reden - das, was schön ist, sind doch seine Haare. Er lehnt
sie nochmals ab. Sie korrigiert sich noch einmal, sie meinte nicht das
Haar sondern seinen Mund. Jedes Mals verhält sich Salome wie ein kleines
Mädchen, das gefallen möchte und ihre greifbaren Mittel benutzt. Das
ist eben das Problem. Salome und Johannes sprechen nicht die gleiche
Sprache. Die ganze Szene zeigt die Unmöglichkeit der Kommunikation
zwischen diesen beiden Menschen; denjenigen, die wir vor einem Moment so
tief und vollkommen verbunden gesehen haben.
Hier fängt Salomes
innere Verwandlung. Johannes der Täufer wird wieder ins Gefängnis
geschickt, Herodes und Herodias treten auf die Bühne mit dem gesamten
Hof. Eine Weile lang sehen und hören wir die Streitikgeiten zwischen den
Ehegatten. Herodes spürt stets die Anwesenheit von etwas Komischem:
flatternden Flügeln, einem kalten Wind, Zeichen von Veränderung. Er weiß
aber nicht, was sie bedeuten. Er hat Angst, ist besorgt, der gesamte
Hof ist besorgt. Es fängt eine Diskussion an über das Kommen des
Messias, und ob diese Gerüchte, die die ganze Provinz durchqueren,
vertrauenswürdig sind. Alle diskutieren, alle streiten, alle verlieren
sich. Nur Salome hört zu. Sie hört und schweigt. Herodes möchte bei ihr
sein, fragt ob sie etwas Wein oder etwas zum Essen haben möchte. Sie
aber zeigt kein Interesse und bleibt in ihrer eigenen Welt versunken.
Plötzlich, als Herodes sie zum Tanzen herausfordert, stimmt sie entgegen
den Erwartungen aller zu. Sie tanzt, trotz des Flehens ihrer Mutter. Am
Ende verlangt sie nach dem Kopf des Johannes. Herodes versucht es ihr
auszureden, sie erinnert ihn aber, er habe einen Eid geschworen. Herodes
hat keine andere Wahl. Der Kopf kommt auf einem silbernen Tablett.
Salome bricht ihr Schweigen und sagt: "Hättest du mich gesehen! Hättest
du mich gesehen, du hättest mich geliebt!", und vor einem entsetzten
Publikum küsst sie seinen Lippen. Herodes befiehlt auf der Stelle ihren
Tod. Der Vorhang fällt.
Interessant ist, bei Salome das
Bewusstsein ihres Untergangs zu sehen. Sie weiß, dass sie zu einer Welt
gehört, die untergehen wird, und sie mit ihr. Mehr als das, ist es ihr
klar, dass sie die neue kommende Welt nicht sehen wird, weil sie nicht
in der Lage ist, sie zu verstehen. Seit ihrem ersten Auftritt denkt sie
an den Tod, Erneuerung, Reinheit, an eine reinere und weniger befleckte
Welt. Sie glaubt dies in den Worten des Johannes des Täufers zu
erkennen. Bald aber wird sie sich ihrer eigenen Grenzen bewusst. Sie
weiß ganz genau, dass sie sterben wird, so wie Johannes, so wie ihre
Welt. Sie möchte wenigstens beim Sterben diese Welt umarmen, die sie so
gerne gesehen hätte, als würde sie, und sei es nur dieses einzige Mal,
die gleiche Sprache sprechen. Salome steht nun nicht nur für Wollust und
Haben-Wollen, vielmehr nimmt sie eine universellere Dimension an, in
der sie die Erkenntnis der menschlichen Bedingungen symbolisiert, das
Bewusstsein des eigenen Ruins, der Untergang des historischen Moments.
In dieser Perspektive ist Salome nicht mehr eine Legende der Verführung,
und schließt sich jener Galerie von Archetypen des menschlichen
Dilemmas an: diese kristallisierten Essenzen, die wir Mythen nennen, wie
Antigone, Ikarus oder Ödipus.
Frau Goebbels mochte die Welt,
in der sie lebte, und wollte die neue kommende Welt nicht sehen. Das
nennt man Angst. Salome lehnt die Welt ab, in der sie lebt, spürt die
Notwendigkeit der Veränderung und will sehen, was danach kommt. Sie kann
es aber nicht, und sie weiß es. Ich nenne es das dramatische
Bewusstsein des Untergangs.
Am 4. April 1968, wurde Martin
Luther King ermordet. Fünf Jahre davor hatte er seine berühmte Rede "I
have a dream/Ich habe einen Traum" gehalten. Wie Salome und anders als
Frau Goebbels, wollte martin Luther eine neue Welt entstehen sehen. Und
wie Salome, ist er gestorben bevor er sie sehen konnte. Martin Luther
King war sich der menschlichen Grenzen sehr bewusst. Sein Beitrag war
aber sein unerschütterlicher Glaube daran, dass die Menschheit selber
über diese Grenzen hinauswachsen und sie erweitern kann, und auf diese
Weise sie sogar überschreitet beziehungsweise mit ihnen wächst. Das
nennt man Traum.
Diese zwei Aspekte sind besonders wichtig.
Weil Traum ohne Bewusstsein zerbrechlich ist, und Bewusstsein ohne Traum
begrenzt. Diese Klarheit ist umso wichtiger, da der Moment, in dem wir
leben, ein Wendepunkt zwischen zwei Welten zu sein scheint. Wie auch
Salome ist es uns bewusst, dass wir in einer Welt der Dekadenz und
Armut, Krieg und sozialen Ungerechtigkeit leben. Wir verstehen sie
nicht, und wir wissen nicht, was danach kommt. Ist es der neue Messias,
Obama, ein neuer Krieg, das Ende des Hungers auf der Welt? Keiner weiß.
Mögen wir selber, und nicht die Zeit, diejenigen sein, die entscheiden,
was danach kommt.
Wie der portugiesische Dichter Fernando Pessoa (Álvaro de Campos) schon sagte:
"Ich bin nichts. Ich werde nie etwas sein. Ich kann nicht einmal etwas sein wollen.
Abgesehen davon, habe ich in mir alle Träume der Welt."
Ines Thomas Almeida
Berlin, 15. April 2009