SALOME

GOEBBELS, SALOME UND MARTIN LUTHER KING

    Am 1. Mai 1945 hat Magda Goebbels, fürsorgliche und liebevolle Mutter, in einem Berliner Bunker alle ihrer sechs Kinder eins nach dem anderen mit sechs Giftfläschchen umgebracht. Danach hat sie sich zusammen mit ihrem Mann, dem bekannten Propagandaminister des Nazi-Regimes, das Leben genommen. In ihrem letzten Brief schrieb sie: Ich will nicht in einer Welt leben, in der es keinen Nationalsozialismus gibt. Die Welt ohne Nationalsozialismus ist, wie wir alle wissen, eine viel bessere Welt. Frau Goebbels aber wusste dies nicht. Was sie wusste ist, dass sie zu einer Welt gehörte, die dem Ende geweiht war, und sie wollte nicht leben, um die neue Welt zu sehen, die kommen würde.

Wir finden etwas Ähnliches in der Legende der Salome. Die ersten Quellen stammen aus der Bibel, wenn auch auf indirekte Weise. Hier wird geschrieben, dass Herodes Antipas, Tetrarch von Galiläa und Verbündeter des römischen Reiches, seinen Bruder umgebracht und seine Frau Herodias geheiratet habe. Diese Ehe sei von vielen seiner Untertanen als unmoralisch und inzestuös gesehen worden, vor allem von Johannes dem Täufer, der Herodes und seiner Frau den Ehebruch und Mord öffentlich vorgehalten habe, worauf er verhaftet, ins Gefängnis gebracht und später auf Veranlassung der Herodias hingerichtet worden sei. Herodias soll ursprünglich ihren Mann gebeten haben, den Propheten zu töten. Der habe sich geweigert, aus Angst, eine Rebellion zu provozieren. Herodias habe dann ihre Tochter aus erster Ehe überredet, für den Tetrarch zu tanzen und ihn schwören zu lassen, dass er ihr dafür alles geben würde, was sie von ihm verlangte. Die Tochter habe gehorcht und für ihren Onkel und Stiefvater getanzt. Am Ende habe er sie gefragt, und sie ebenfalls ihre Mutter, was die Belohnung dafür sei. Die Antwort der Herodias: der Kopf des Johannes. In dieser biblischen Geschichte wird der Name von Herodias Tochter nicht genannt. Diesen finden wir zum ersten Mal in den Apokryphen und in den Schriften des hebräischen Historikers Flavius Josephus, in denen geschrieben wird, dass Salome, Tochter der Herodias, später heiratete und ein langes Leben mit vielen Kindern führte. Die Hauptrollen dieser Legende in der Bibel sind also deutlich Herodes un Herodias.

    Erst im 19. Jhd. kommt Salome als Hauptfigur vor. Heinrich Heine und Gustave Flaubert entdeckten diese biblische Geschichte wieder und beschrieben Herodias als eine nachtragende, rachsüchtige und grausame Frau, dabei erschien Salome immer noch als Nebenfigur und etwas naiv. Der Maler Gustave Moreau war der Erste, der diese Interpretation änderte, in dem er in einem berühmten Gemälde Salome als eine vor dem Herodes tanzende femme fatale darstellte. In diesem Gemälde hat Salome eine Lotosblume in der Hand, die als Symbol für Reinheit und Keuschheit steht, aber auch für Ägypten, Indien, und für den Orient vor der westlichen Kolonialherrschaft. Es scheint, als würde der Osten auf einem silbernen Tablett serviert, zum Vergnügung des Westens, der ihn begehrt, ohne ihn jemals zu verstehen - wie wir jeden Tag bestätigt sehen können, in dem wir die Nachrichten lesen oder die Tagesschau sehen. Diese neue Salome war sehr populär und beliebt, und hat neue Möglichkeiten der Interpretation geöffnet. In seinem Roman À Rebours beschrieb Joris-Karl Huysmans Moreaus Gemälde bis ins Detail. Dieser Roman, sehr berühmt wegen der Ersetzung der Handlung durch die detaillierte Beschreibung der damaligen Gesellschaft, wie es Marcel Proust einige Jahre später in seinem À la recherche du temps perdu machen würde, war einer der größten Bestseller gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Einer seiner aufmerksamsten Leser war Oscar Wilde, der ihn sogar in seinem Buch "Das Bildnis des Dorian Gray" indirekt erwähnte.

    Im Jahre 1896 schrieb Oscar Wilde das Theaterstück Salome, das eine völlig neue Version dieser Legende popularisiert hat. Hier ist Salome die Hauptfigur, sie hat sehr gut definierte Eigenschaften und trifft selbst ihre eigenen Entscheidungen. Sie wird normalerweise als Symbol für Wollust, Haben-Wollen und Begehren gesehen.

    Ihr erster Auftritt beinhalten bereits den Kern für das, was wir später sehen werden: Salome kommt gerade aus Herodes' Palast und sucht draußen auf der Terrasse die frische Luft. Sie sagt, sie sei vom Leben ermüdet, von der Dekadenz, den lasziven Blicken ihres Onkels Herodes. Sofort erkennt sie, oder vielleicht möchte sie nur erkennen, wie der Vollmond die Reinheit einer Jungfrau zu haben scheint. Das ist ein wichtiger Punkt, weil alle anderen Figuren den Vollmond als bedrohlich und ungeheuerlich betrachten. Die Betonung von Reinheit und Keuschheit zeigt vom Anfang an, wie Salome sich von der Dekadenz ihrer Welt gequält fühlt. Kurz danach hören wir die Stimme des Jochanaan oder Johannes des Täufers, der strafend über diese Welt redet, und das Erscheinen des Messias ankündigt. Salome besteht trotz der Warnungen von Herodes Soldaten darauf, seine Stimme zu hören, die ihr von neuen Dingen erzählt - Dinge, die ihre Sorgen betreffen. Als Johannes die schlechtesten Dinge über ihre Mutter Herodias erzählt, und auch über ihren Onkel und Stiefvater Herodes, über das Leben im Palast und in der gesamten Provinz, sind Salomes erste Worte: "Sprich mehr, Jochanaan, deine Stimme ist wie Musik in meinen Ohren" und "Sprich mehr, Jochanaan, und sag mir, was ich tun soll". Dies ist ein Moment der tiefen und vollkommenen Identifizierung zwischen Johannes dem Täfer und Salome: beide wollen jenem Weg folgen, der die materielle Welt ablehnt und die geistlichen Welt, die sich vor ihren Augen öffnet, annimmt. Hier fängt Salomes Drama an. Weil sie in diesen Worten die Wahrheit und die Ankündigung der neuen Welt, selbst das Versprechen ihrer eigenen Erlösung, erkennt; unf sie will diesem Weg folgen, ist aber nicht in der Lage, es zu tun. Sie ist durch das konditioniert, was sie im Leben kennengelernt und gesehen hat; jene ihr bekannte und von ihr gehasste Welt, die trotzdem die ihre ist. Selbst wenn sie dieser neuen Wahrheit folgen will, fehlen ihr dafür die entsprechenden Möglichkeiten. Ihre Mittel sind begrenzt. Die einzige ihr bekannte Art, mit jemandem im Einklang zu sein, ist Verführung und Lust. Salome, die ihre Reinheit und Keuschheit so sehr schätzt und die Blicke des Tetrarchen von Galiläa nicht mehr ausstehen kann, möchte sich plötzlich Johannes dem Täufer hingeben. Sie fängt an, ihm zu sagen, wie schön sein Körper sei. Johannes antwortet mit mystischen Worten und lehnt sie entschlossen ab. Sie versucht dann sich zu korrigieren, gibt ihm recht, es sei sehr unpassend, über seinen Körper zu reden - das, was schön ist, sind doch seine Haare. Er lehnt sie nochmals ab. Sie korrigiert sich noch einmal, sie meinte nicht das Haar sondern seinen Mund. Jedes Mals verhält sich Salome wie ein kleines Mädchen, das gefallen möchte und ihre greifbaren Mittel benutzt. Das ist eben das Problem. Salome und Johannes sprechen nicht die gleiche Sprache. Die ganze Szene zeigt die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen diesen beiden Menschen; denjenigen, die wir vor einem Moment so tief und vollkommen verbunden gesehen haben.

Hier fängt Salomes innere Verwandlung. Johannes der Täufer wird wieder ins Gefängnis geschickt, Herodes und Herodias treten auf die Bühne mit dem gesamten Hof. Eine Weile lang sehen und hören wir die Streitikgeiten zwischen den Ehegatten. Herodes spürt stets die Anwesenheit von etwas Komischem: flatternden Flügeln, einem kalten Wind, Zeichen von Veränderung. Er weiß aber nicht, was sie bedeuten. Er hat Angst, ist besorgt, der gesamte Hof ist besorgt. Es fängt eine Diskussion an über das Kommen des Messias, und ob diese Gerüchte, die die ganze Provinz durchqueren, vertrauenswürdig sind. Alle diskutieren, alle streiten, alle verlieren sich. Nur Salome hört zu. Sie hört und schweigt. Herodes möchte bei ihr sein, fragt ob sie etwas Wein oder etwas zum Essen haben möchte. Sie aber zeigt kein Interesse und bleibt in ihrer eigenen Welt versunken. Plötzlich, als Herodes sie zum Tanzen herausfordert, stimmt sie entgegen den Erwartungen aller zu. Sie tanzt, trotz des Flehens ihrer Mutter. Am Ende verlangt sie nach dem Kopf des Johannes. Herodes versucht es ihr auszureden, sie erinnert ihn aber, er habe einen Eid geschworen. Herodes hat keine andere Wahl. Der Kopf kommt  auf einem silbernen Tablett. Salome bricht ihr Schweigen und sagt: "Hättest du mich gesehen! Hättest du mich gesehen, du hättest mich geliebt!", und vor einem entsetzten Publikum küsst sie seinen Lippen. Herodes befiehlt auf der Stelle ihren Tod. Der Vorhang fällt.

    Interessant ist, bei Salome das Bewusstsein ihres Untergangs zu sehen. Sie weiß, dass sie zu einer Welt gehört, die untergehen wird, und sie mit ihr. Mehr als das, ist es ihr klar, dass sie die neue kommende Welt nicht sehen wird, weil sie nicht in der Lage ist, sie zu verstehen. Seit ihrem ersten Auftritt denkt sie an den Tod, Erneuerung, Reinheit, an eine reinere und weniger befleckte Welt. Sie glaubt dies in den Worten des Johannes des Täufers zu erkennen. Bald aber wird sie sich ihrer eigenen Grenzen bewusst. Sie weiß ganz genau, dass sie sterben wird, so wie Johannes, so wie ihre Welt. Sie möchte wenigstens beim Sterben diese Welt umarmen, die sie so gerne gesehen hätte, als würde sie, und sei es nur dieses einzige Mal, die gleiche Sprache sprechen. Salome steht nun nicht nur für Wollust und Haben-Wollen, vielmehr nimmt sie eine universellere Dimension an, in der sie die Erkenntnis der menschlichen Bedingungen symbolisiert, das Bewusstsein des eigenen Ruins, der Untergang des historischen Moments. In dieser Perspektive ist Salome nicht mehr eine Legende der Verführung, und schließt sich jener Galerie von Archetypen des menschlichen Dilemmas an: diese kristallisierten Essenzen, die wir Mythen nennen, wie Antigone, Ikarus oder Ödipus.

    Frau Goebbels mochte die Welt, in der sie lebte, und wollte die neue kommende Welt nicht sehen. Das nennt man Angst. Salome lehnt die Welt ab, in der sie lebt, spürt die Notwendigkeit der Veränderung und will sehen, was danach kommt. Sie kann es aber nicht, und sie weiß es. Ich nenne es das dramatische Bewusstsein des Untergangs.

    Am 4. April 1968, wurde Martin Luther King ermordet. Fünf Jahre davor hatte er seine berühmte Rede "I have a dream/Ich habe einen Traum" gehalten. Wie Salome und anders als Frau Goebbels, wollte martin Luther eine neue Welt entstehen sehen. Und wie Salome, ist er gestorben bevor er sie sehen konnte. Martin Luther King war sich der menschlichen Grenzen sehr bewusst. Sein Beitrag war aber sein unerschütterlicher Glaube daran, dass die Menschheit selber über diese Grenzen hinauswachsen und sie erweitern kann, und auf diese Weise sie sogar überschreitet beziehungsweise mit ihnen wächst. Das nennt man Traum.

   Diese zwei Aspekte sind besonders wichtig. Weil Traum ohne Bewusstsein zerbrechlich ist, und Bewusstsein ohne Traum begrenzt. Diese Klarheit ist umso wichtiger, da der Moment, in dem wir leben, ein Wendepunkt zwischen zwei Welten zu sein scheint. Wie auch Salome ist es uns bewusst, dass wir in einer Welt der Dekadenz und Armut, Krieg und sozialen Ungerechtigkeit leben. Wir verstehen sie nicht, und wir wissen nicht, was danach kommt. Ist es der neue Messias, Obama, ein neuer Krieg, das Ende des Hungers auf der Welt? Keiner weiß. Mögen wir selber, und nicht die Zeit, diejenigen sein, die entscheiden, was danach kommt.

Wie der portugiesische Dichter Fernando Pessoa (Álvaro de Campos) schon sagte:

"Ich bin nichts. Ich werde nie etwas sein. Ich kann nicht einmal etwas sein wollen.
Abgesehen davon, habe ich in  mir alle Träume der Welt."


Ines Thomas Almeida
Berlin, 15. April 2009